Tiefe, menschliche Gefühle und existentiellen Schmerz erlebten mehr als 120 Konzertbesucher am Sonntagnachmittag in der Reinhardskirche in Steinau. Virtuos interpretierten der hohe Tenor Thomas Schluchter und Andrea Capecci am Klavier den Liederzyklus „Winterreise“ von Franz Schubert. In ihm geht es um das verlorene Glück eines jungen Wanderers nach einer enttäuschten Liebe. Dem Szenario zugrunde liegen Gedichte von Wilhelm Müller (1794 bis 1827), die er in den „Hinterlassenen Papieren eines reisenden Waldhornisten“ (1824) unter dem Titel „Die Winterreise“ veröffentlichte.
Mucksmäuschenstill lauschten die Zuhörer den 24 Liedern, in denen die winterliche Natur und die innere Niedergeschlagenheit des Wanderers korrespondieren. Mit Hingabe an das Werk intonierte Thomas Schluchter die Melodien, in denen Wut, Erschöpfung, Einsamkeit, Verbitterung, Verlorenheit, gar Todessehnsucht zum Ausdruck kommen.
Während der Ausgangspunkt der Winterreise klar ist, bleibt das Ziel im Ungefähren. Steht der Tod des Reisenden am Ende, sein Abdriften in den Wahnsinn, die Verdrängung oder schafft er es, seine düstere Verfassung zu überwinden?
Eins ist sicher: Im letzten Lied „Der Leiermann“ begegnet der einsame Wanderer in der Winterlandschaft dem einzigen Menschen, von dem der Liederzyklus erzählt. Ihm stellt er die Frage: „Wunderlicher Alter, soll ich mit dir gehn? Willst du zu meinen Liedern deine Leier drehn?“
Mit stehendem Applaus dankten die Zuhörer den beiden Künstlern für die bewegende Darbietung. Die Reinhardskirche, von den Lichtern am Weihnachtsbaum und den Kronleuchtern festlich illuminiert, erwies sich als grandioser Veranstaltungsort. Auch Schluchter war begeistert: „Die Reinhardskirche als Konzertort ist ein Schatz, zu dem man der Stadt nur gratulieren kann.“ Der Tenor, auf internationalen Bühnen bekannt, feierte mit Schuberts „Winterreise“ an diesem Nachmittag Premiere in Steinau.
Zu Beginn des Konzertes hatte Bürgermeister Christian Zimmermann die Besucher begrüßt. Er dankte dem Organisten der evangelischen Kirchengemeinde, Gunther Martin Göttsche, auf dessen Initiative das Konzert zurückging, dem Ersten Stadtrat Dietmar Broj, der mit ihm gemeinsam das Vorhaben umsetzte, der Gemeinde für die Bereitstellung des Gotteshauses, dem Team des Verkehrsbüros für den reibungslosen Ablauf und dem Ehepaar Link für die Bewirtung in der Pause. Bei einem Glas Sekt hörte man den vielfachen Wunsch, der Konzertnachmittag möge nicht der letzte seiner Art gewesen sein.