Von Migration, Flucht und neuen Anfängen

Text_2

„Bewegte Frauen“ ist die Sonderausstellung betitelt, die bis 15. November im Bergwinkel-Museum in Schlüchtern zu sehen ist. Anhand einzelner Biografien erzählt sie von wechselvollen Schicksalen, von Flucht und Vertreibung, von Angst und Hoffnung, von Schmerz und Trauer und nicht zuletzt von unbändiger Kraft und dem Mut, in einem fremden Land neu anzufangen.
„Ich blicke mit ganz viel Liebe zurück“, sagt Irmgard. Sie ist 99 Jahre alt und stammt aus Tachau im Egerland. Schöne Zeiten hat sie hier verlebt, bis Anfang Januar 1945 die Bomben fielen. Nach dem Krieg folgte für die junge Lehrerin die Aussiedlung, „eine qualvolle Reise“, erinnert sie sich. Sie landete schließlich mit ihrem Ehemann in Hanau-Großauheim, lebte in Armut und schwierigen Verhältnissen, eines der beiden Kinder starb an einer Lungenkrankheit. Trotz der Trauer und des Hungers fühlte sie sich gut aufgenommen, meisterte Hürden und Probleme und knüpfte tiefe Freundschaften. „Ich bin sehr stolz auf mich, dass ich es geschafft habe“, berichtet die alte Dame, die heute in einem Altenzentrum wohnt, rückblickend.
Ivy ist 26 Jahre alt und froh, dass sie noch am Leben ist. Vor vier Jahren hat sie Nigeria verlassen, weil sie in ihrem von Korruption und Kriminalität geprägten Heimatland keine Perspektive für sich sah. Nach der Schule hatte sie ein Jahr bei einer Schneiderin gelernt und von einer Frau gehört, dass man in Italien besser und professioneller nähen lernen könne. In einem überfüllten Boot überstand sie die gefahrvolle Überfahrt über das Mittelmeer, doch ihr Traum zerplatzte schnell. In Italien sollte sie zur Prositution gezwungen werden, als Ivy sich weigerte, wurde sie massiv bedroht. Verängstigt flüchtete sie nach Deutschland und ist dankbar für die Unterstützung und Motivation, die sie erfuhr. „Ich weiß, wie man näht und Haare frisiert. Damit möchte ich mir hier eine Zukunft aufbauen, die ich in Nigeria nicht hätte erreichen können.“
Dies sind nur zwei der insgesamt 26 Porträtierten, die die Sonderschau „Bewegte Frauen“ im ersten und zweiten Obergeschoss des Lauterschen Schlösschen zeigt. Auf großformatigen Bannern, die sich auf mehrere Räume verteilt in die verschiedenen Dauerausstellungen zur Stadthistorie einreihen, prangen Gesichter und Auszüge aus Lebensgeschichten und laden ein, sich näher mit den einzelnen Akteurinnen zu befassen, einen anderen Blickwinkel einzunehmen. Hinter jeder Frau steht ein wechselvolles Schicksal, eine prägende Flucht- oder Auswanderungserfahrung, aber auch ein Erlebnis des Ankommens. Als Grundlage der Ausstellung diente die Biografie-Arbeit mit Frauen aus dem Main-Kinzig-Kreis, die aus verschiedenen Generationen und Herkunftsländern stammen – ein Projekt des Büros für interkulturelle Angelegenheiten.
Museumsleiterin Birgit Schwarzer ist stolz darauf, dass es ihr gelungen ist, diese besondere Ausstellung über Migrationsgeschichten von 1945 bis heute nach Schlüchtern zu holen. „Sie war im März für ein paar wenige Tage in Gelnhausen für die Öffentlichkeit zugänglich. Dann folgte der pandemiebedingte Lockdown. Wir sind das erste Museum, das sich die Wanderschau nun ausleihen durfte“, berichtet Schwarzer. Eine offizielle Eröffnung entfiel diesmal aufgrund der zu beachtenden Hygienevorschriften und Abstandsregeln.
Die Besichtigung ist ab sofort zu den Öffnungszeiten des Bergwinkel-Museums in der Schlossstraße 15 – freitags und samstags von 15 bis 19 Uhr sowie sonntags von 14 bis 18 Uhr – möglich. Jeder Besucher erhält eine kostenlose Broschüre zur Ausstellung, die alle Frauen und ihre spannenden, berührenden Lebensgeschichten ausführlich darstellt.
Ein Besuch außerhalb der Öffnungszeiten kann mit Birgit Schwarzer vom Büro für Touristik, Kultur und Freizeit, Telefon (0 66 61) 85-359, E-Mail: b.schwarzer@schluechtern.de, vereinbart werden. Ausstellungsende ist am 15. November, dann setzen die „bewegten Frauen“ ihre Reise durch den Main-Kinzig-Kreis fort.