Kühne Akrobatik mit alten Einkaufswagen

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Für ein Traumspiel öffnete am Samstagabend noch einmal das Kaufhaus Langer vor seinem Abriss. Gut 180 Gäste drängten in die leere Halle, während sich ein Haufen junger Mädchen um die letzten Langer-Plastiktüten balgte.
Sie waren jedoch Tänzerinnen des Ensembles Artodance der Choreografin und Kulturpreisträgerin Monica Opsahl. Sie und den Bildenden Künstler Lars Tae-Zun Kempel hatte die Stadt Schlüchtern eingeladen, das Warenhaus ein letztes Mal zu bespielen: Aber Vergangenes sollte mit Zukünftigem verbunden werden!
Doch zunächst stand der Abschied im Vordergrund, der durchaus einige Besucher traurig machte und an Paul Celans gleichnamiges Gedicht erinnerte: „Wie hab ich das gefühlt was Abschied heißt / wie weiß ichs noch: ein dunkles unverwundnes / grausames Etwas, das ein Schönverbundnes / noch einmal zeigt und hinhält und zerreißt.“ Die Compagnie reanimierte zwar humorvoll typische Plätze im Langer: Tanzte mit Büchern in der imaginären Schreibwarenabteilung und in der unsichtbaren Poststelle, rockte auf der noch vorhandenen Theke des ehemaligen Cafés und präsentierte kühne akrobatische Aktionen mit alten Einkaufswagen.
Doch diese lustigen Pop Ups, wie Choreografin Opsahl die Erinnerungsfetzen nannte, wurden immer wieder durch düstere Musik und bittere Bewegungsaktionen in der Halle zerrissen. Dieses Tanztheater machte zugleich das „Schönverbundene“ und sein Zerreißen deutlich! Höhepunkt des „grausamen Etwas“ waren Kämpfe dunkler Gestalten am Drahtzaun, der den hinteren Teil des Langers abschirmte.
Kempel präsentierte danach zwei Videoinstallationen mit assoziativen Bildern, in denen er sich kritisch mit künstlicher Intelligenz auseinandersetzte. Auch die ist letztlich am Zugrundegehen der Innenstädte, an der Zerstörung von Kinos durch Netflix und Warenhäusern durch Amazon verantwortlich. Doch die visuelle und performative Kunst wollte nicht belehren. Sie hielt dem Publikum einen Spiegel vor und ließ genügend Raum für eigene Gedanken und Deutungen.
Im zweiten Teil ging es um Hoffnungen und zukünftige Möglichkeiten – ganz konkret auch um das Langer-Areal, auf dem eines Tages neben Wohnungen und Geschäften ein Kulturzentrum entstehen soll. „Man hat immer die Wahl“, meinte Kempel mit seiner dritten Video-Installation im hinteren Teil des Abrisshauses und symbolisierte das durch ein, sich selbst von seinen Ketten befreiendes Maskenwesen. Dann sprangen die Tänzerinnen akrobatisch in den zahlreichen leeren Wühltischen herum, machten dadurch ebenso „Befreiung“ deutlich wie später im Tanz zwischen einengenden Säulen, aus denen sie sich herauslösten. Auf sie als lebende Leinwände projizierte Kempel undeutliche naturhafte Videoclips. So schwand die Düsternis – Optimismus und Zuversicht wurden spürbar.
Das zeigte auch die letzte Darbietung auf der wieder laufenden Rolltreppe, sicher ein Höhepunkt des Abends: Zunächst marschierten die Tänzerinnen brav die Treppe rauf und runter, einzelne wechselten überraschend die Laufrichtung, rannten gegen die rollenden Stufen an, turnten auf dem Handlauf oder fuhren sitzend herum. Was wie Kinderspiele begann, wurde immer kunstvoller und akrobatischer. Opsahl hatte aus vorangegangenen Improvisationen ihrer Tänzerinnen auf der Treppe eine strenge Choreografie kreiert, die ebenfalls Hoffnung machte: Ständig ging es aufwärts, raus aus Höhlen oder Kellern. Doch Zurückkehren war möglich, man konnte ja immer wieder aufs Neue beginnen: „Ab durch die Mitte!“
Langer Jubel des Publikums über die gelungene Begegnung von performativer und bildender Kunst, die nur für einen Abend auf diesen Ort und dieses Thema bezogen war. Da es keine feste Bühne gab, mussten die Gäste ständig ihre Plätze wechseln und wurden Teil dieses Traumspiels.