Es ist der Moment, in dem Thomas Rühmanns Stimme eine geradezu archaische Wucht entwickelt: „Wer Hoffnung predigt, tja, der lügt. Doch wer die Hoffnung tötet, ist ein Schweinehund.“ Er presst die Töne hervor, und in seinem Gesang liegt so viel Leidenschaft und Wut, Zärtlichkeit und Bitternis, dass die Zuhörer in der Stadthalle Schlüchtern davon an der Wurzel ihres Herzens gepackt werden. Authentisch, herb, berührend, das ist es, was Rühmann und seine Mitspieler mit der Geschichte von „Sugar Man“ auf die Bühne bringen.
Der Liedtext ist von Wolf Biermann, die Musik von Sixto Díaz Rodriguez. Was Rühmann, der in Magdeburg aufwuchs und die berühmte Schauspielschule Ernst Busch in Ost-Berlin besuchte, daraus macht, ist eine Verschmelzung von Künstlerseelen auf mehreren Ebenen: Das Leben, Fühlen und Schaffen der ostdeutschen Liedermacher verwoben mit dem psychedelischen Folk-Rock von Rodriguez. Das Ganze im Spiegel der Geschichte des Musikers und Theatermannes Thomas Rühmann und seiner fabelhaften Mit-Instrumentalisten Monika Herold und Jürgen Ehle. Wahnsinn. Selten erlebt man einen solchen Abend. Ein würdiger Abschluss für die Veranstaltungsreihe zum 25-jährigen Bestehen des Kuki Schlüchtern, dessen Vereinsmitglieder den Interessierten aus der Region seit vielen Jahren Kultur- und Kino-Erlebnisse mit individueller Note bescheren.
So auch dieses Mal: Drei hervorragende Musiker auf der Bühne, die mit Bass, Elektro- und Akustikgitarre für einen erdigen Sound sorgen. Und eine Geschichte, die einem beim Zuhören den Atem nimmt. So ging es Rühmann nach eigenem Bekunden auch, als er durch einen Oscar-prämierten Dokumentarfilm vom beeindruckenden Schicksal des Sixto Díaz Rodriguez erfuhr. Das muss man sich mal reinziehen: Talentierter Musiker aus Detroit nimmt in den 1970ern zwei Alben auf, die aber nie den Durchbruch schaffen. Die Bob-Dylan-mäßige, auf schräge Weise sexy klingende Kratzigkeit der Lieder hatte es den Musikproduzenten angetan, allein das Publikum macht nicht mit. Die Platten floppen. Was Rodriguez, Sohn mexikanischer Einwanderer und bald dreifacher Familienvater, nicht ahnt: In Australien und vor allem im vom Apartheid geknechteten Südafrika wird er zum Star. Während der Musiker in Detroit sein Dasein als Bauarbeiter fristet, werden seine Lieder, in denen es um Drogen, Liebe, Scheitern und Freiheit geht, in Südafrika zu Hymnen des Protests.
Da das Land weitgehend abgeschottet ist und kaum Informationen durchdringen, ranken sich bald die wildesten Gerüchte um Rodriguez. Die Mehrheit der südafrikanischen Fans glaubt, er habe sich bei einem Auftritt auf der Bühne erschossen. Dieser Mythos befeuert die Begeisterung für seine Musik noch mehr: Sein Album „Cold Fact“ steht in jedem Haushalt der weißen Mittelschicht im Regal. Bald ist er in Südafrika nur noch der „Sugar Man“ – abgeleitet von seinem größten Hit, in dem es um psychoaktive Substanzen und wunderschöne Halluzinationen geht. Flucht aus der Wirklichkeit sozusagen.
Und da kommt Rühmann ins Spiel: Er vermählt Rodriguez‘ Musik mit der Lyrik ostdeutscher Liedermacher wie Wenzel, Pannach, Hacks oder Biermann, und es entsteht eine Verbindung von solcher Kraft, die das Trio auf der Bühne ebenso erfasst wie das Publikum. Hier geht es um die Apartheid in der ehemaligen DDR, um die Trauer, die Kritik, die Sehnsucht, die in der wundervollen Sprache der Lieder ihren Ausdruck findet. „Ich möchte am liebsten weg und bleibe am liebsten hier./Was wird bloß aus unseren Träumen in diesem zerrissenen Land?“ Rühmann, Ehle und Herold machen das Publikum zum Teil dieses Erlebens. Es ist die Geschichte von Rodriguez, aber auch die Geschichte ganzer Völker. Es ist die Geschichte eines Künstlers, aber auch eines ganzen Universums. Und ein bisschen ist es auch wie im Märchen: Sowohl das deutsch-deutsche Zusammenwachsen, als auch die späte Katharsis des Rodriguez. Von einem begeisterten südafrikanischen Fan wird er schließlich ausfindig gemacht und gibt 1998 sechs umjubelte Konzerte in dem Land, in dem er als Idol und Sinnbild der Rebellion verehrt wird. Berührend ist die Bescheidenheit des Künstlers, der den Hype um seine Person mit ebensolchem Gleichmut hinnimmt wie sein hartes Arbeitsleben auf den Baustellen in Detroit. Die Menschen fragen ihn, ob er glaubt, dass er durch eine bewusst erlebte Musiker-Karriere ein besseres Leben gehabt hätte. Er antwortet: „Keine Ahnung, ob es besser geworden wäre. Ich kann ja mal darüber nachdenken.“ Rühmann und Co. schenken dem Publikum weit mehr als das wahre Märchen des Sixto Díaz Rodriguez. Und die Zuhörer mögen das Trio gar nicht ziehen lassen. Jubel und donnernder Applaus begleiten mehrere Zugaben. Dieser Abend macht Lust, den Osten neu zu entdecken. Rühmann betreibt dort in dem Weiler Zollbrücke an der polnischen Grenze mit einem Kompagnon das „Theater am Rand“. Also: Auf in den Oderbruch, wo die Menschen wahre Märchen erzählen.