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In Schlüchtern sind zwölf neue Stolpersteine an drei Orten für ermordete, malträtierte oder vertriebene Opfer der Nazis verlegt worden. Symbolisch wurden sie dadurch an ihre letzten freiwilligen Wohnorte zurückgebracht. In den letzten fünf Jahren gab es bereits 45 dieser Erinnerungsplatten in Schlüchtern.
„Hier wohnte…“ hieß es auch in Breitenbach, wo zum ersten Mal für einen nichtjüdischen politischen Aktivisten ein Stolperstein verlegt wurde. Martin Kubsch, zweimal im ersten Weltkrieg verwundet, war mehrfach inhaftiert, saß lange wegen der Verbreitung „illegaler Schriften“ im Zuchthaus. Er überlebte das Konzentrationslager Dachau, in dem er eingesperrt war, starb jedoch später an den Folgen dieser Inhaftierung. Bewegend ist die Geschichte der sechs Geschwister der Familie Nossbaum und einem Schwager, die in der Obertorstraße 44 lebten. Fanny, die älteste, galt als Familienoberhaupt und kümmerte sich intensiv um die psychisch kranke Betty, das zweitjüngste Mitglied der Familie. Wohl aufgrund der hohen Belastungen erkrankte später auch Fanny psychisch und wurde 1936 in eine Klinik gesperrt. Beide Frauen wurden „euthanasiert“, also von den Nazis ermordet. 70 000 Menschen mit psychischen, geistigen oder körperlichen Behinderungen fielen – zwischen 1940 bis 1941 – dem staatlich organisierten Mordprogramm T4 zum Opfer. Ziel war die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“, um die „Rassenhygiene“ zu fördern und wirtschaftliche Kosten zu senken. Die Aktion wurde 1941 offiziell gestoppt, lief jedoch heimlich bis zum Kriegsende weiter, insgesamt starben dadurch über 200 000 Menschen. Bella und ihr Mann Moritz Seemann entkamen dem Terror in Schlüchtern durch ihre Flucht nach Frankfurt. Doch 1941 wurden sie von dort nach Minsk deportiert und ermordet. Ebenso wie Bella eine Zeitlang, arbeiteten auch Johanna und ihr Bruder Leopold in der Dreiturm-Seifenfabrik. Nach der Enteignung der Firma durften sie hier nicht mehr arbeiten, Johanna stürzte sich aus einem Fenster in der Obertorstraße, Leopold vergiftete sich in Frankfurt. Martha konnte 1939 nach England entkommen, litt aber Zeit ihres Lebens an Behinderungen durch die körperlichen Misshandlungen der Nazis.
In der Wassergasse 2 a wurden Platten für die Familie Adler verlegt. Salomon und Julie Adler flohen nach Frankfurt, auch sie wurden von den Nazis 1942 nach Theresienstadt verschleppt und umgebracht. Ihre Söhne Berthold und Max Adler konnten bereits Mitte der 1930er-Jahre in die USA oder nach Palästina entkommen. Berthold Adlers weiteres Schicksal ist kaum bekannt, jedoch dokumentierte Michael Adler, der in Palästina geborene Sohn von Max Adler, das Über-Leben der Familie. Die drei Verlegungen waren mit Ritualen verbunden, an denen jeweils etwa 70 Leute teilnahmen: Eine Akkordeonistin spielte melancholische und doch tröstende Lieder. Drei Schülerinnen der Stadtschule trugen mit ihrem Lehrer Gedichte vor. Bürgermeister Möller und die Mitglieder der Stolpersteingruppe Kerstin Baier-Hildebrand und Clas Röhl sprachen Worte gegen das Vergessen. Ein wichtiger Aspekt war dabei auch ein Hinweis auf den wachsenden Antisemitismus in unserem Land. Trotz der umstrittenen Vorgänge im Nahen Osten, müsse die Erinnerungskultur – nicht nur jüdischer Opfer der Nazi-Diktatur – in unserer Stadt weiter gepflegt werden.
Michael Adler gibt in der Biografie seiner Familie folgendes Ereignis wieder: „Eines Tages suchte Grete beim Einkaufen von Fleisch in der nahegelegenen ‚Deutschen Kolonie‘ im Zentrum Haifas eine Metzgerei auf, deren Besitzer zufällig ‚Wurst‘ hieß. Wurst versuchte, Grete zu täuschen, indem er die von ihr gewünschten durch minderwertige Fleischstücke ersetzte. Als sie sich beschwerte, erkannte er sofort, dass sie etwas von dem Geschäft verstand, und bot ihr eine Stelle als Verkäuferin an. Auch Max arbeitete dort. Später betrieb er einen Fleischerladen in Haifa, obwohl er kein ausgebildeter Metzger war.“
Interessierte können sich weitere Bilder unter: www.wochen-bote.de ansehen.