Judas, der Verräter! Einer der zwölf Apostel Jesu verrät seinen Herrn und liefert ihn damit ans Kreuz. Diese Deutung der Rolle des Judas Ischarioth ist in der Glaubenslehre derart verwurzelt, dass die Bezeichnungen „Judaskuss“ und „Judaslohn“ als Inbegriffe üblen Verrats gelten.
Doch sind die Überlieferungen der Evangelisten unumstößlich, oder lässt die biblische Figur des Judas andere Sichtweisen zu?
Basierend auf dem 1975 veröffentlichten fiktiven Werk des Schriftstellers und Literaturhistorikers Walter Jens (1923-2013) „Ich, ein Jud – Verteidigungsrede des Judas Ischarioth“ wagt Sebastian Dietz in dem Theaterprojekt „Die Verteidigungsrede des Judas Ischarioth“ die Tradition zu hinterfragen, provokante Gedankengänge zu formulieren und sein Premierenpublikum in einem 90-minütigen Monolog zu fesseln.
Er fordert heraus, sinniert und provoziert, schreit seine Verzweiflung heraus und ficht innere Kämpfe aus. Er verkörpert die Figur des Judas mit deren unterschiedlichen Facetten, die im Verlauf der Aufführung an die Oberfläche treten, verleiht ihnen Inhalt, Glaubwürdigkeit und Authentizität.
Sein Publikum ist sein Kontrahent, seine Zuhörer sind diejenigen, die ihn seit 2000 Jahren als Verräter verachten. Vor ihnen hält er seine Verteidigungsrede und erwartet Genugtuung, ja sogar Dank.
Zwar ging Judas als Verräter in die Geschichte ein, über seine Beweggründe werde in der Bibel aber nichts gesagt, sagte Schirmherr Pfarrer Michael Sippel in seinen Begrüßungsworten. Das Stück rege zum Nachdenken an und werfe Fragen auf. Wie gehe ich mit Menschen um? Gibt es Situationen, in denen ich andere ohne Kenntnis der Hintergründe abstemple? Die Rolle des Judas werde aus einer anderen Sicht gezeigt. „Ob wir das annehmen oder nicht, bleibt uns überlassen“, sagte Pfarrer Sippel.
„Gerne denken wir in Schwarz-Weiß, teilen ein in Gut und Böse“, referierte Sebastian Dietz in einem Vorwort. Natürlich seien die anderen böse und wir die Guten. Dabei beginne das Böse immer mit dem Anspruch gut zu sein. „Doch vielleicht sind wir gar nicht so gut und die anderen gar nicht so böse?“, stellte er in den Raum.
Die Pfarrkirche St. Peter und Paul ist in fahles Licht getaucht, die Orgel braust auf und das Altarbild mit dem Gekreuzigten erstrahlt in rotem Licht. Im hinteren Teil des Gotteshauses fallen Münzen klirrend zu Boden (Aha, die 30 Silberlinge!) und Sebastian Dietz durchschreitet den Kirchenraum, und sieht sich im Altarraum Jesus am Kreuz gegenüber.
„Es war so abgesprochen! Er konnte sich auf mich verlassen, die vier Worte hatten wir – er und ich – vereinbart, zum Zeichen, dass es kein Zurück mehr gab. Ich ging bedächtig auf ihn zu. Ich küsste ihn, und er lächelte. „Gegrüßt seist du, Rabbi!“ Wir waren allein. Wir gehörten zusammen“, schilderte er den Moment des Verrats als intime, sanfte Begegnung zweier Verbündeter.
„Ich habe dich nicht verraten, ich nicht!“, brach es aus ihm heraus. „Was war denn schon zu verraten? Seinen Aufenthaltsort kannten doch alle! Sein Geheimnis, dass er Gottes Sohn sei, hätte ich verraten! Aber das hat er doch vor allem Volk mitten auf dem Marktplatz selbst gesagt! Hat man einen Verräter gebraucht, um zu erfahren, was in jeder Akte stand? Ein Mensch war vonnöten, um Jesus zu überliefern, um demütig und fromm zum Attentäter zu werden. Ein Mensch, der dem Verrat Leib, Seele und Stimme verleiht. Ich tat‘s freiwillig aus Frömmigkeit. Um eurer Rettung willen gab ich mich dazu her.“
Seit Jahrtausenden habe er das Urteil, die Verhöhnung als Verräter, das Gezeter der Frommen in aller Welt ertragen müssen! „Nein, das habe ich nicht verdient!“, rief er in die Menge, als hätte er auf diesen Augenblick 2000 Jahre gewartet.
Längst hätte logisches Nachdenken Zweifel an seiner Schuld aufkommen lassen müssen, stattdessen habe man ihn als Sündenbock abgestempelt, ihm die Schuld am Tod des Herrn zugeschoben, ihn zum Sprecher eines Volkes gemacht, das ausgerottet werden müsse, weil es Jesus getötet hatte.
Und nun formulierte er die entscheidende Frage: „Angenommen, ich hätte ‚Nein‘ gesagt! Ohne Judas kein Kreuz, ohne Kreuz keine Botschaft der Erlösung, Gottes Plan wäre ein Nichts!“, stellte er die Folgen klar und forderte: „Ich verlange, dass mein Schuldspruch aufgehoben wird!“ Er sei für würdig befunden worden, sich in Gehorsamkeit gegen Gott zu erniedrigen. „Ich habe meinen Auftrag erfüllt! Jesus fürchtete ein ‚Nein‘ in letzter Minute, doch ich hielt aus!“
Doch plötzlich wurde er von Zweifeln ergriffen. Was, wenn alle, die ihn verfluchten, Recht hätten? Ein „Nein“ hätte genügt, die Welt zu verändern. Es gäbe keinen Papst, keinen Bischof, keinen Küster. Jesus wäre als Zimmermann alt geworden, mit seiner Lehre als sanfte Friedensdoktrin, für die sich jeder hätte frei entscheiden können. Nie hätte es Märtyrer, Inquisition, Glaubenskriege, Streit der Konfessionen, Judenverfolgung, Pogrome, Lager, Gas gegeben, denn niemand wäre schuld an Jesu Tod gewesen! „Hilf mir Herr! Erbarme dich, gib mir ein Zeichen, dass ich recht getan habe!“, schrie er in seiner Verzweiflung. War er etwa doch kein Sklave Gottes gewesen, sondern ein Mensch, der hätte ‚Nein‘ sagen können?
Im Mittelgang erscheint Jesus als Lichtgestalt und hebt ihn auf. Weitere Mitwirkende: Nazarener: Thorsten Kelsch, Regie: Nathalie Baron, Organist: Norbert Ross, Licht und Ton: Benjamin Emeling: PR: Melanie Gräfen.
Letzte Aufführung
Heute, Samstag, 23. September, um 20.30 Uhr
Karten sind an der Tourist-Info, im Modehaus Kosidlo und online unter judas-bss.de
erhältlich.