„Wir Deutschen werden es regelmäßig übertreiben“

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Einen bestens aufgelegten Gregor Gysi erlebten 170 Zuhörer in der Markthalle des Steinauer Rathauses. Der Bundestagsabgeordnete der Linken wurde seinem Ruf als exzellenter Rhetoriker gerecht – trotz des sperrigen Themas „Monster Bürokratie – schnürt die Bürokratie Leben und Demokratie in den Städten und Gemeinden ein?“.
„Wenn man meint, man braucht eine staatliche Macht, dann braucht man auch ein gewisses Maß an Bürokratie“, stellte Gysi gleich zu Beginn seiner einstündigen Ausführungen klar. Bürokratie sei für die Freiheit und Gleichbehandlung der Bürger erforderlich. Unbürokratisch hingegen hieße oft „keine Kontrolle“.
Gleichzeitig warnte Gysi vor einem Übermaß an Bürokratie. Welch seltsame Blüten eine überbordende Bürokratie treibt, dazu hatte der 69-Jährige eine Menge Beispiele im Gepäck. Kopfschüttelnd erzählte er von einem Erlebnis als Berliner Bürgermeister. Ein Gastwirt habe im Frühjahr 2001 einen Antrag gestellt, Stühle im Freien aufstellen zu dürfen. Die Genehmigung für dieses Vorhaben erhielt der Geschäftsmann in 2002 für den Sommer 2001, außerdem die Aufforderung, eine entsprechende Gebühr zu zahlen.
An dieser Stelle warb Gysi für eine „Umkehrung des Rechts als Akt der Entbürokratisierung“. Werde ein Antrag gestellt und die Behörde widerspreche nicht, gelte dieser als genehmigt. Dies sei eine wesentlich freundlichere Vorgehensweise für Bürger und Unternehmen. „Allerdings hat die Bundesrepublik vor der Umkehrung des Rechts noch Angst“, stellte Gysi fest.
Als Beispiele für zu wenig Bürokratie führte der Bundestagsabgeordnete die Bürgerämter in Berlin an. Diese seien „so grauenhaft schlecht besetzt, dass sie überflüssig sind“. Alles voran das LAGeSo (Landesamt für Gesundheit und Soziales), das auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise für bundesweite Schlagzeilen gesorgt hatte. Schuld sei der massive Personalabbau, der von einer Politik zu verantworten sei, „die an den Rand der Katastrophe geführt hat“.
Gysis Fazit zum Thema Bürokratie: „Es geht nicht ohne und zu viel ist schädlich. Und so wie wir Deutschen veranlagt sind, werden wir es regelmäßig übertreiben.“
Losgelöst vom Thema nahm Gysi Stellung zu vielen gesellschaftlichen und politischenThemen, angefangen bei prekärer Beschäftigung über Steuergerechtigkeit bis hin zu Donald Trump und Europa. Immer wieder gab es Applaus für die klaren Worte, die Gysi fand, ob beim Thema des demografischen Wandels („Nirgendwo in Deutschland sind wir eine kinderfreundliche Gesellschaft.“), hinsichtlich der etablierten Parteien („Wir haben eine gewisse Arroganz gegenüber dem Kleinbürgertum und das steht uns nicht zu.“), zum Schulz-Hype („Schulz ist kein Linker, aber ein Pragmatiker und ehrgeizig.“), über sich selbst („Ich bin ja Politiker. Ich antworte immer auf das, was ich will, und nicht auf die Frage.“), seine politische Orientierung („Links bist du erst, wenn du an der Seite aller Schwachen stehst.“) und die Flüchtlingsfrage („Die Union darf gerne über Obergrenzen diskutieren, aber nicht die Linken.“).
Schlagfertigkeit und Humor auch bei der rund einstündigen Fragerunde, die von dem CDU-Mitglied Dr. Rolf Müller moderiert wurde. Gelächter und Beifall als Gysi augenzwinkernd verriet, er wolle Kanzler werden, sollte es bei der Bundestagswahl im Herbst für eine rot-rot-grüne Bundesregierung reichen.
Die ersten Lacher hatte der Bundestagsabgeordnete gleich zu Beginn des Abends auf seiner Seite, als er Malte Jörg Uffeln mit „Oberbürgermeister“ ansprach.Den Worten Dr. Rolf Müllers ist nichts hinzuzufügen: „Es hat sich gelohnt, heute Abend hierher gekommen zu sein.“