Das präzise, klare Aufblättern der Positionen zu politischen Themen war bei der Podiumsdiskussion der Europäischen Akademie in der Schlüchterner Stadthalle eine große Herausforderung für die Europaabgeordnete Anna Cavazzini (Die Grünen), die Bundestagsabgeordnete Bettina Müller (SPD), den langjährigen Europaabgeordneten Thomas Mann (CDU), Stadtrat Willi Staaf, den Frankfurter Vorsitzenden der Europa Union, Klaus Klipp, und den Landtagsabgeordneten Markus Hofmann (Die Grünen).
Die Moderatoren Hanna Winhold und Julius Warnecke, angehende Abiturienten der Kinzig Schule, ließen den Politikern gerade je 90 Sekunden Zeit, um ihre Statements zu den Problemfeldern Aus- und Weiterbildung, Lebensqualität im ländlichen Raum, Zukunft der Arbeit, Migration und Integration und Innere Sicherheit abzugeben.
Beim Thema Bildung herrschte Einigkeit auf dem Podium. „Lebenslanges Lernen ist Pflicht für jeden“, sagte Markus Hofmann. Für mehr gemeinsames Lernen plädierte Anna Cavazzini, die das deutsche Schulsystem für ungerecht hielt. „Sich nach dem vierten Schuljahr für eine weiterführende Schule entscheiden zu müssen, ist einfach zu früh.“ In Deutschland herrsche großer Nachholbedarf, beim praktischen Lernen digitale Medien einzusetzen, so Klaus Klipp. „Die Schüler müssen kritisches Denken lernen.“
Willi Staaf bemängelte, dass hessische Abiturienten an bayerischen Hochschulen nicht unbedingt zum Studium zugelassen würden. Bettina Müller war der Meinung, dass es an vielen Schulen an qualifizierten Lehrern fehle und zu früh mit der Selektion begonnen werde. Junge Leute sollten Europa entdecken, warb Thomas Mann für Praktika in der EU.
Probleme mit der medizinischen Versorgung im ländlichen Raum sprach Bettina Müller, hohe Jugendarbeitslosigkeit in Europa Thomas Mann an. Hofmann forderte eine Angleichung der Arbeits- und Lebensbedingungen und der Löhne und eine Fortschreibung der Verkehrswende. Cavazzini, die in Chemnitz lebt, meinte, dass die lokale Infrastruktur in Sachsen „abgehängter“ sei als in ihrer Heimatstadt Schlüchtern. Klipp verwies auf die Regionalförderung der EU. 40 Prozent ginge allein in die Agrarwirtschaft. „In Schlüchtern und Umgebung lebt es sich gut“, gestand Staaf.
Einig waren sich die Podiumsteilnehmer, dass sich die Arbeitswelt drastisch verändere und die E-Mobilität viele Jobs kosten werde. „Wir schlittern in eine Rezession und müssen den Umbau der Wirtschaft vorantreiben“, sagte Cavazzini. „Wir machen die Autoindustrie kaputt, indem wir alles zerreden“, meinte Klipp. Hofmann forderte: „Ordentlich haushalten und in zukunftsweisende Projekte investieren. Dafür brauchen wir aber solvente Kommunen.“
Auf die Frage, wie Migration und Integration seit dem Jahre 2015 zu beurteilen sei, betonte Mann: „Vielfalt ist eine Chance. Integration ist ein positiver Faktor. Wir müssen weiterhin verhindern, dass Parallelgesellschaften entstehen.“ Auch Hofmann war der Meinung, dass Integration auf lange Sicht die Gesellschaft bereichere. Die deutsche Alterspyramide lasse sich nur durch Zuwanderung ausgleichen, so Klipp.
Beim Thema Innere Sicherheit betonte Müller: „Es ist eine gefühlte Unsicherheit. Die Kriminalstatistiken geben das nicht her.“ Was Cavazzini bestätigte. „Zahlen zeigen, Deutschland ist so sicher wie nie. Sorgen bereiten aber rechtsradikale Netzwerke“, sprach sie sich für eine europäische Staatsanwaltschaft aus.
Dem Kernthema des Tages, den weltweiten Fridays-For-Future-Demonstrationen, wandte sich das Auditorium erst am Ende zu. Dann aber kontrovers. Während Klaus Klipp bezweifelte, dass Heranwachsende die Komplexität der EU-Klimapolitik mit der Vorgabe, die globale Erwärmung zum Schutz von Ökosystemen auf 1,5 Grad zu begrenzen, in der Tiefe begriffen, betonte Moderatorin Hanna Winhold: „Wir halten uns nicht für Profis, aber wir fühlen uns von einer überalterten Politik verarscht.“ Anna Cavazzini hob hervor, dass die „People For Future“-Bewegung es geschafft habe, die Agenda der Bundesregierung durcheinander zu bringen. „Eine politisierte Jugend ist ein Geschenk“, sagte sie und bekam von den Zuhörern dafür Applaus. Auch Bettina Müller fand es sinnvoll, wenn sich die jungen Leute auf einer friedlichen und vernünftigen Ebene bei der Politik Gehör verschafften. Klimastreik sei besser als jeder abstrakte Politikunterricht.
Der überzeugte Europäer und Märchenerzähler John Rogers hatte einleitend den Brexit persifliert. Dieser sei ein echter Schildbürgerstreich. „Schildbürger sind in der ganzen Welt zerstreut. Einige sind in die Vereinigten Staaten ausgewandert, aber 99 Prozent davon nach Großbritannien. Man darf der Bevölkerung keine blöden Fragen stellen. Das kommt dann dabei raus.“ Im Rahmen der „Ab-in-die-Mitte!“-Veranstaltungsreihe hatten die Stadt Schüchtern und die Europa Akademie alle Bürger eingeladen. Rund 50 Zuhörer erlebten eine spannende Diskussion über zentrale Themen in der Europastadt Schlüchtern.